Dr.
Jens Schröter
Die
Fotografie und die Dunkelheit
Andy Scholz’ Fotografien thematisieren die Fotografie, nämlich
ihre Angewiesenheit auf das Licht: 'Photo-graphie' bedeutet
'Schrift des Lichts‘. Er thematisiert diese Lichtschrift
gerade durch den Hinweis auf ihren Rand: Das Dunkle, also die Abwesenheit
des Lichts. Der Künstler arbeitet diese Dunkelheit auf systematische
Weise heraus – durch den Kontrast zu erleuchteten Stellen.
Durch seine durchdachte Wahl der Motive und durch die bildliche Komposition
zeigt er auf je verschiedene Weise, was Dunkelheit sein kann. Damit übernimmt
er die Aufgabe einer differenzierten Ästhetik des Dunklen, womit
die künstlerische Fotografie – endlich – an andere
Thematisierungen der Dunkelheit anschließen kann. Georg Wilhelm
Friedrich Hegel formulierte in seiner Phänomenologie des Geistes: „Das
Jetzt ist die Nacht“. Für Hegel war der Verweis auf die
Nacht ein Experiment, um zu beweisen, dass dem Hier und Jetzt, also
dem scheinbar Konkretestem, nicht getraut werden kann. Denn der Satz
'Das Jetzt ist die Nacht‘ ist bei Tag natürlich schal
geworden. Aber Hegel kannte nicht die Fotografie. Nur die – Zitat
Hegel – „aufgeschriebene Wahrheit“ des Satzes „Das
Jetzt ist die Nacht“ wird im Licht des Tages unwahr, die Fotografie
hingegen kann die Dunkelheit aufbewahren (auch ein Wort Hegels).
Sehen wir uns ein Foto von Scholz an: Eine Rampe, rechts ein paar
Einkaufswagen, dahinter eine Fensterfront, ein trostloser Supermarkt,
in dem elektrisch grell gleichförmige Regale beleuchtet werden.
So wird sichtbar, dass es in der Moderne auf eine bestimmte Weise
gar keine Nacht, gar keine Dunkelheit mehr gibt – immerzu strahlt
das ewige Licht des Konsums. Doch die Rampe wie das Dach flüchten
nach links … in die Dunkelheit. Auch das künstliche und
blendende Licht der Warenwelt – diese ist heute das Konkreteste – wirft
einen Schatten. Und in dieser Dunkelheit sind alle diejenigen, die
nicht an dem immerzu strahlenden Tag des Konsums teilnehmen können.
Bertolt Brecht dichtete dereinst: "... die im Dunkeln sieht
man nicht" – und in der Tat, wieder liefert Scholz Bilder,
die uns zu denken geben sollten: Wie eine ausdrückliche Ausgrenzung
erscheint das stechend hell beleuchtete Zimmer eines Domizils, links
und unten eindrücklich eingerahmt. Darum nur das undurchdringliche
Dunkel all derjenigen, die an diesem Wohnraum nicht teilnehmen können.
Doch darinnen herrscht auch nur eine spießige und klinische
Leere…
Andy Scholz’ konzentrierte Arbeit formuliert mithin nicht nur
Fragen an die ästhetischen Ränder der Fotografie – so
hatte sich schon Lee Friedlander mit dem Schatten als Abwesenheit
des Lichts auseinandergesetzt –, sondern verbindet diese auch
mit Fragen nach dem Sinn dessen, was fotografisch ist. Martin Heidegger
schrieb einmal: „Mit der Frage nach dem Sein wagen wir uns
an den Rand der völligen Dunkelheit.“ Sehen wir wieder
hin: Ein verlassener, schäbiger Tunnel mit einer grellen Beleuchtung,
die niemandem den Weg weist. Der Weg führt in die Tiefe, doch
der Knick des Tunnels knickt scheinbar auch alle perspektivischen
Fluchtlinien nach links. Der Fluchtpunkt selbst scheint ins Unsichtbare
hinter die Mauer zu verschwinden. Ein Weg ins Nichts. Oder: Ein leerer
Wagen, blutrot flutet uns das Interieur entgegen, wohin sind die
Insassen entflohen? Ein paar verwelkte Blätter – beklemmende
Szenen aus Filmen David Lynchs drängen sich auf. Oder: Ein in
ein rötliches, unheimliches Licht getauchtes Gebäude, ein
heller Eingang, menschenleer und abweisend: Man spürt den Atem
einer kafkaesken Bürokratie. Man spürt den verzweifelten
Aufschrei dagegen.
Man begreift auf einen Schlag: Wir sind in eine fremde Welt geworfen.
Zur Ausstellung: „Fotografie 2002 bis 2006“ in der
Galerie Morat, Hamburg
Eröffnung: 10. November 19 Uhr, Dauer: 10.11.2006 bis 10.01.2007
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